„In Georgien sind die Lebensumstände stark vom Zufall abhängig und liegen entsprechend eher außerhalb des Einflussbereichs der Menschen.“
Das 15 km nordwestlich von Kutaissi, der zweitgrößten Stadt Georgiens, gelegene Tskaltubo war in der Sowjetzeit einer der größten Kurorte der Union. Wegen seiner leicht radioaktiven Thermalquellen wurde es bereits seit dem 19. Jahrhundert als Heilbad betrieben. Im Zuge der sowjetischen Kurortpolitik zur Aufrechterhaltung der sozialistischen Arbeitskraft wurde es zwischen 1939 und 1955 auf- und in einer zweiten Hochphase der 1970er Jahre ausgebaut.
Nach dem Abchasien-Krieg 1992/93 wurden dort ca. 10.000 der rund 250.000 vertriebenen Georgier untergebracht. Bis heute ist es vielen nicht gelungen, die Kurhotels, Sanatorien oder Erholungsheime zu verlassen, in die sie einquartiert worden waren, und sich ein neues Leben aufzubauen. Die Flüchtlinge waren auf die Unterkunft in Kurhotels und Sanatorien angewiesen: Kurparks verwandelten sich in Gärten und Viehweiden, Bäume wurden geschlagen, Tische, Stühle, Theken und Parkette der Speisesäle verwendet, um kochen und heizen zu können. Nach und nach verfielen so auch die prächtigsten der zumeist in den 1950er Jahren auf Geheiß Stalins errichteten Gebäude und Parkanlagen.
Heute wird das Vier-Sterne-Hotel „Tskaltubo SPA Resort“ als einziges der Hotelgebäude und Sanatorien, die in der Sowjetzeit errichtet worden waren, als solches betrieben. Es war bereits Anfang der 1990er Jahre von paramilitärischen Einheiten besetzt worden, die in Folge des Konfliktes von 1992/93 die Flüchtlinge aus Abchasien davon abhielten, auch dieses Sanatorium zu beziehen.
Der Basar ist der zentrale Ort, an dem die Menschen aus Tskaltubo und den umliegenden kleineren Orten zusammenkommen. Er ist der Verkehrsknotenpunkt, an dem die Busse halten und Taxifahrer auf Kunden warten. Das Basargebäude ist ein im Stil der sowjetischen Moderne errichteter Bau aus Glas, Eisen und Beton – die bauliche Substanz ist weitgehend im Verfall begriffen. Dennoch werden Erdgeschoß und erstes Obergeschoß für den Verkauf von Lebensmitteln, Kleidung, Elektro- und Elektronikartikeln und weiteren Artikeln des täglichen Bedarfs genutzt. Die hohe Zahl an Fahrzeugen vor dem Marktgebäude ist meist in einem Zustand, in dem sie in Europa nicht mehr fahren dürfen. Die hohe Arbeitslosigkeit macht aus vielen Männern Taxifahrer, die den Tag mit Warten verbringen. Die Fahrtkosten sind niedrig (ca. 1 € im Taxi pro Person von Kutaissi nach Tskaltubo, 0,30 € für die Fahrt im Bus), dennoch können sich die Ärmsten die Fahrt nicht leisten. Der kleine Basar hinter dem Gebäude gibt Auskunft über die geringen finanziellen Möglichkeiten der Menschen und er veranschaulicht, was es heißt, dass über 50% der Bevölkerung ihre Haushaltskosten mit dem Anbau von Obst- und Gemüse senken müssen. Wo aber viele gezwungen sind, das zu tun, ist wenig verdient. Fast alle, die hier verkaufen, haben den guten Teil ihres Lebens in Abchasien verloren.
In Georgien sind die Lebensumstände stark vom Zufall abhängig und liegen entsprechend eher außerhalb des Einflussbereichs der Menschen. Armut reproduziert sich über Generationen – entsprechend haben Arbeitsmigration, Handel mit Selbsterzeugtem auf kleinen Märkten und Familien- und Clannetzwerke eine hohe Bedeutung (vgl. Gugushvili 2011, 16-18).
Das Caucaus-Barometer gab für 2017 an, dass 22% der Bevölkerung im Laufe eines Monats nicht über genügend Geld verfügte, um für sich und ihre Familie täglich Essen zu kaufen; 30 % der Bevölkerung hätten monatlich zwar genügend Geld für Nahrung, nicht aber für Kleidung. 24 % sind angewiesen auf den Verkauf von aus kleiner Subsistenzlandwirtschaft stammenden Erzeugnissen, nur 40% beziehen mehr oder weniger regelmäßige Löhne. 10% der Bevölkerung gaben an, dass sie 250 USD im Monat benötigten als Untergrenze an Haushaltseinkommen für mehrere Personen, um ein „normales Leben“ führen zu können – 47% der Bevölkerung verfügten aber lediglich über ein Haushaltseinkommen von 50-250 USD; die Renten lägen durchschnittlich bei 50 USD im Monat (vgl. Caucasus Barometer 2017), während 59 % der Bevölkerung auf diese Zahlungen zur Unterstützung des Haushaltseinkommens im Familienverbund angewiesen seien. Seit einigen Jahren wird von einer zunehmenden Verschuldung der Haushalte berichtet, die Geld aufnehmen müssten, um – meist vergeblich – zu versuchen, sich aus der Armutsfalle zu befreien (vgl. Lomsadze 2018).
Seit mehreren Jahren gelangen Ausländer nach Tskaltubo und es entwickelte sich u. a. ein wachsender Rucksacktourismus. Von diesem künden zahlreiche Webseiten respektive Blogs mit Erfahrungsberichten und Fotografien in vielen westeuropäischen Sprachen. Dieser Tourismus konzentriert der sich auf außergewöhnliche und besondere Begegnungen mit Menschen, die unter prekären Verhältnissen leben, Schreckliches erlebt und alles verloren hatten. Dies alles auf der Bühne von Gebäuden, die eindrucksvoll von einer untergegangenen Zeit zeugen. Man kann diesen Tourismus durchaus als Armutstourismus bezeichnen, ohne dass damit den Touristen grundsätzlich ein Interesse am Schicksal der Betroffenen abgesprochen werden soll.
Dennoch wirft ein Tourismus, der sich im Schatten von Flüchtlingslagern vollzieht, grundlegende moralische Fragen auf. Der Basar Tskaltubos macht jedem, der bereit ist, den zentralen Park und die bereits sanierten Bäderanlagen zu verlassen, nur zu deutlich, wie problematisch die Lebensbedingungen der besonders verwundbaren Gruppe der Binnenflüchtlinge sind.